Die komplementärtherapeutische Atemtherapie ist eine körpertherapeutische Methode, die den Atem als Spiegel des inneren Erlebens versteht. Sie bietet einen Raum für bewusste Wahrnehmung, für Veränderung und für persönliche Entwicklung. Im Zentrum steht nicht das „richtige Atmen“, sondern das Wahrnehmen dessen, was ist – im Körper, im Atem und im Erleben.
Achtsamkeit und Wahrnehmung im Mittelpunkt
Atemtherapie beginnt mit der bewussten Hinwendung zum gegenwärtigen Moment. Dabei beobachten Klient*innen, wie sich der Atem im Körper bewegt, wie Spannung und Entspannung sich zeigen und welche Empfindungen oder Emotionen wahrnehmbar sind. Diese Form der achtsamen Innenschau schult die Körperwahrnehmung, stärkt die Selbstregulation und öffnet den Zugang zu tieferen, oft unbewussten Prozessen.
Ein bemerkenswerter Effekt dieser vertieften Körper- und Selbstwahrnehmung ist, dass sich auch im Alltag schrittweise Veränderungen einstellen. Wer bewusster wahrnimmt, wie sich bestimmte Verhaltensweisen körperlich und emotional auswirken, beginnt ganz von selbst, heilsame Entscheidungen zu treffen. Schädliche Muster verlieren an Kraft – nicht aus Zwang, sondern weil man spürt, wie schlecht sie einem tun. Umgekehrt werden gesunde Verhaltensweisen direkt vom Körper „belohnt“: Man fühlt sich leichter, freier, stabiler. Die Motivation für Veränderung wächst also auf natürliche Weise von innen heraus. So wird auch die Selbstwirksamkeit gestärkt: Klient*innen wissen, was ihnen gut tut und wie sie sich selbst helfen können.
Die Therapie arbeitet im Wesentlichen mit drei unterschiedlichen Zugängen, die sich je nach Anliegen und Situation ergänzen können:
1. Arbeit auf der Liege: Körperarbeit mit achtsamer Berührung
In dieser Arbeitsweise liegt die behandelte Person auf einer Behandlungsliege. Als Therapeutin arbeite ich mit gezielten Berührungen an bestimmten Körperstellen und führe teilweise passive Bewegungen durch. Jede Intervention wird von Phasen der Nachspürzeit begleitet – ein Raum, in dem Veränderungen bewusst wahrgenommen werden können. Diese Arbeit dient nicht nur der Schulung der Körperwahrnehmung, sondern kann auch tiefere Prozesse anstoßen. Alte Spannungsmuster, festgehaltene Emotionen oder unbewusste Haltungen können sich zeigen und über den Körper in Bewegung kommen.
2. Bewegungsübungen: den Alltag über den Körper verstehen
Bewegungsarbeit ist ein weiterer Zugang, um Körperbewusstsein zu fördern. Die Übungen sind einfach, achtsam ausgeführt und werden meist im Stehen oder Sitzen durchgeführt. Nach der Bewegung folgt auch hier eine Phase der bewussten Wahrnehmung: Wie fühlt sich der Körper an? Welche Emotionen oder Gedanken treten auf?Durch diese Form der Arbeit können nicht nur Spannungen gelöst, sondern auch individuelle Strategien für herausfordernde Alltagssituationen entwickelt werden. Klient*innen erlernen Übungen, die sie selbständig anwenden können – z. B. um sich zu zentrieren, zu beruhigen oder zu aktivieren.
3. Erfahrungsübungen: emotionale Themen über den Körper bearbeiten
In Erfahrungsübungen widmen wir uns gezielt emotional aufgeladenen Themen. Diese können aktuelle Belastungen oder alte, noch nicht verarbeitete Erlebnisse betreffen. Durch die achtsame Einbindung des Körpers in diesen Prozess wird eine tiefere, nachhaltigere Verarbeitung möglich.
Oft zeigen sich während dieser Arbeit körperliche Reaktionen wie Enge, Druck oder Unruhe – Zeichen dafür, dass sich emotionale Energie im Körper manifestiert hat. Durch das bewusste Dasein mit diesen Empfindungen, ohne sie wegzudrängen, kann sich die emotionale Ladung allmählich lösen. Dies schafft Raum für neue Erfahrungen und innere Klarheit.
Die Kraft der Imagination
In allen drei Arbeitsweisen können imaginative Elemente eingesetzt werden – sei es in Form innerer Bilder, Symbolen, spontaner oder geführter Imaginationen. Besonders in der Arbeit auf der Liege oder in den Erfahrungsübungen können diese Vorstellungen helfen, innere Prozesse zu vertiefen, Ressourcen zu aktivieren oder schwierige Themen in einer geschützten inneren Umgebung zu erkunden.
Ein Weg zu mehr Selbstwahrnehmung und innerer Integration
Komplementärtherapeutische Atemtherapie ist keine Technik, sondern eine Einladung, sich selbst auf einer tieferen Ebene zu begegnen. Sie unterstützt Menschen dabei, ihren Körper bewusster zu bewohnen, emotionale Prozesse zu verstehen und neue Handlungsspielräume zu entdecken. Dabei steht nicht das „Machen“ im Vordergrund, sondern das achtsame „Sein“ mit dem, was sich zeigt – im Atem, im Körper und im Erleben. Und je klarer diese innere Wahrnehmung wird, desto natürlicher verändern sich auch äußere Muster. Die eigene Intuition, was gut tut und was nicht, wird stärker – und das Leben beginnt sich von innen heraus zu ordnen.
Berührung kann Angst, Schmerz und Depressionen lindern – Artikel im Guardian (englisch)
Signale aus dem Körperinneren – sehr lesenswerter Artikel aus dem Spektrum der Wissenschaft über Interozeption, d.h. die Wahrnehmung der Signale des eigenen Körpers.